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Was sind „Haplogruppen“? Eine biologische Betrachtung.
Die Einteilung menschlicher Abstammungslinien in Haplogruppen basiert auf der verhältnismäßig jungen Erkenntnis, daß ein kleiner Teil der Erbinformation nach der Befruchtung der Eizelle unverändert an die nächste Generation weitergereicht wird. Bis ins letzte Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts war man davon ausgegangen, daß sich das Erbgut zweigeschlechtlicher Lebewesen bei jedem Paarungsvorgang vermischt, so daß es unmöglich wird, die Spur bestimmter Gene durch die Generationen zurückzuverfolgen. Für diese Regel gibt es jedoch, wie man heute weiß, mindestens zwei Ausnahmen:
Zunächst hatte sich herausgestellt, daß Mitochondrien, kleine funktionale Module, die in jeder modernen Zelle vorkommen, über einen eigenen DNS-Strang mit separaten Erbinformationen verfügen. Mitochondrien sind die Energieproduzenten der Zelle; man vermutet, daß es sich ursprünglich um eigenständige, bakterienähnliche Lebewesen gehandelt hat, die im Laufe der biologischen Entwicklung in die moderne Zelle integriert wurden. Alle Mitochondrien eines menschlichen Körpers stammen aus der Eizelle der Mutter, durch die Zellteilung entstehen aus demselben Bauplan zahllose Kopien in jeder einzelnen Zelle. So verändert sich also der mitochondriale Bauplan im Wechsel der Generationen nicht, er wird lediglich von der Mutter an ihre Kinder weitergereicht. Daher hat jeder Mensch dieselbe mitochondriale DNS wie alle Angehörigen seiner direkten weiblichen Vorfahrenlinie.
Wenig später gelang auch die Bestimmung der direkten männlichen Abstammungslinie über die Untersuchung des Y-Chromosoms. Die menschliche Erbinformation ist in jedem einzelnen Zellkern des Körpers auf 46 paarweise angelegten Chromosomen gespeichert. Die eine Hälfte stammt vom Vater, die analog angeordnete andere von der Mutter. Nach der Befruchtung der Eizelle durch ein Spermium gruppieren sich die zusammengehörigen Chromosomenpaare, Erbinformationen werden spontan und unsystematisch ausgetauscht. Da bei diesem Vorgang, der sogenannten Rekombination, die Gene beider Eltern vermischt werden, kann der Biologe die Ergebnisse eines Gentests nicht mehr bestimmten Vorfahren zuordnen.
Für diese Regel gibt es jedoch eine Ausnahme: Die Geschlechtschromosomen des Mannes. Die Kombination der beiden kleinsten Chromosomen entscheidet über das Geschlecht des neu entstehenden Lebewesens: Eine Frau hat zwei X-, ein Mann ein X- und ein Y-Chromosom. Ob aus einer befruchteten Eizelle ein Mann oder eine Frau wird, hängt davon ab, ob sie sich mit einem Spermium mit X- oder mit einem Y-Chromosom vereint. Während die beiden X-Chromosome einer Frau wie gewohnt rekombinieren, verhält es sich im Falle des Mannes anders: Die Hauptabschnitte von X und Y reagieren nicht miteinander. Das bedeutet: Ein Mann trägt dasselbe Y-Chromosom wie sein Vater und wie alle anderen Angehörigen seiner direkten männlichen Abstammungslinie. Da bei einer Frau X und X miteinander rekombinieren, können weibliche Linien auf diese Weise also nicht rekonstruiert werden. Das ist allein durch Untersuchung der mitochondrialen DNS möglich.
Solche Abschnitte der DNS, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben werden, nennt man Haplotypen. Daß Y-Chromosome und mt-DNS bei unterschiedlichen Menschen überhaupt variieren liegt daran, daß von Zeit zu Zeit bei der Weiter-gabe von Erbinformationen Kopierfehler passieren, sogenannte Mutationen: selten auftretende, spontane, zufällige Veränderungen im genetischen Schlüssel. Je mehr Generationen man zurückschaut, umso mehr unterscheidet sich daher der Gensatz der mitochondrialen DNS und des Y-Chromosoms eines heute lebenden Menschen von demjenigen seines Vorfahren. So erkennt man, daß die Haplotypen von Menschen auf der ganzen Welt immer ähnlicher werden müssen, je älter die untersuchten Skelette sind. Daraus läßt sich schließen, daß alle heute lebenden Menschen in direkter Linie auf zwei Vorfahren zurückzuführen sind: Auf einen Y-chromosomalen „Adam“ in direkter männlicher und auf eine mitochondriale „Eva“ in direkter weiblicher Linie. Beide lebten vor ca. 150.000 Jahren in Afrika („Out-of-Africa-Theorie“), sicherlich aber nicht am selben Ort oder zur selben Zeit.
Betrachtet man die Entwicklung in der umgekehrten Richtung, beginnt man also die Untersuchung vor etwa 150.000 Jahren, so erkennt man, daß sich durch Mutationen aus einem einzigen Y-Haplotyp und einem mt-Haplotyp allmählich alle heute auftretenden unterschiedlichen Varianten entwickelt haben. Je weiter man die Zeit voranschreiten läßt, je differenzierter wird das Bild, je unterschiedlicher werden auch die zeitgenössischen Menschen. Wo immer eine Mutation auftritt, spalten sich die Entwicklungslinien. So entstehen zwei Stammbäume, einer für die väterlichen, ein zweiter für die mütterlichen Linien. Wegen der sehr zahlreichen Mutationen der letzten 150.000 Jahre wären die beiden Haplotypenstammbäume allerdings sehr unübersichtlich, es gäbe eine Unzahl von Verästelungen. Zur Veranschaulichung faßt man daher ähnliche Haplotypen zu sogenannten Haplogruppen zusammen. Die Y-Chromosome oder Mitochondrien innerhalb solcher Gruppen teilen einige wenige, charakteristische Mutationen. Jede Haplogruppe wird durch einen Buchstaben dargestellt, die Anordnung der Buchstaben soll die Entstehungsgeschichte abbilden. So hatte z.B. der Y-chromosomale Adam die männliche Haplogruppe A. Durch eine charakteristische Mutation entstand die Haplogruppe B, durch eine weitere C. Noch spätere Mutationen begründeten die Linien D, E und F usw. Das bedeutet, daß später entstandene Gruppen alle Mutationen der frühen Varianten ebenfalls tragen – umgekehrt ist das nicht der Fall. So läßt sich nicht nur die verwandtschaftliche Beziehung, sondern auch die Reihenfolge, in der die verschiedenen Gruppen entstanden sind ablesen. Jetzt kann man für die männlichen und weiblichen Linien Stammbäume zeichnen, die das genetische Auseinanderdriften der Menschheit seit 150.000 Jahren abbilden. (Abbildung 1)
Männlichen wie weiblichen Haplogruppen sind dieselben Großbuchstaben zugeordnet, was oft zu Verwirrung führt. Denn Y- und mt-Gruppen mit demselben Buchstaben haben genetisch nichts miteinander zu tun, weil sich zwischen beiden keine direkte Beziehung herstellen läßt. So ist Y-HG I die dominante männliche Linie in Nordeuropa und im Balkan, während mt-HG I eine seltene eurasische weibliche Linie charakterisiert.
Manche Haplogruppen sind sehr selten – andere waren evolutionär erfolgreich und treten in sehr großer Zahl auf. Zur Differenzierung ist es dann notwendig, Untergruppen zu definieren. Das geschieht durch abwechselndes Anfügen von Zahlen und Buchstaben. Beispiel: R1b1b2 ist eine Untergruppe der in Europa sehr zahlreich auftretenden Y-HG R. H1 – H9 sind 9 Untergruppen der in Europa sehr zahlreichen weiblichen mt-HG H.
Der neue Ansatz, die Abstammung der Menschen und ihre Verwandtschaftsverhältnisse durch Haplogruppen auszudrücken, eröffnet weitreichende Möglichkeiten. Zwar ist es umstritten, dem einzelnen Individuum bestimmte Eigenschaften nur auf Grund der Zugehörigkeit zu einer Haplogruppe zuzuordnen. Denn sein Y-Chromosom, das er mit den anderen Vertretern seiner Gruppe teilt, faßt nur einen geringen Teil seines Genoms. Jeder Mensch trägt Erbgut auf 46 Chromosomen, von denen Y mit Abstand das kleinste ist. Noch zweifelhafter ist der Einfluß der mitochondrialen DNS auf die menschliche Persönlichkeit. Wenn man aber auf die Haplogruppenkonstellation ganzer Populationen schaut, ergibt sich ein anderes Bild. Dann erkennt man sehr anschaulich die Zusammensetzung der Bevölkerung aus verschiedenen Teilpopulationen, über deren Herkunft und Verwandtschaftsgrad Schlüsse gezogen werden können. Abbildung 2 zeigt die Haplogruppenstruktur verschiedener europäischer Völker.
Um zu verdeutlichen, welche Erweiterung des Horizonts die Unterscheidung nach Haplogruppen liefert, schauen wir auf die Verteilung der Y-Chromosome in Deutschland: Wir sehen, daß R (rot-gelb) und I (grün-blau) die beiden dominanten männlichen Haplogruppen sind. Genetische Untersuchungen sehr alter Skelettfunde zeigen uns, daß I vermutlich die Haplogruppe der autochthonen, steinzeitlichen Europäer ist. Mindestens bis zum Neolithikum trugen die meisten Europäer ein Y-Chromosom mit der charakteristischen Mutation M170. Dennoch gehört die relative Mehrheit der Deutschen – ebenso wie die Mehrheit der Europäer - zur Haplogruppe R1b, die zusammen mit R1a sogar mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Die Wurzeln von R liegen im eurasischen Raum, ihr Vorkommen in Deutschland und Europa ist nach Ansicht der Forscher auf eine Einwanderungswelle in der Bronzezeit zwischen 6000 und 2000 v. d. Zr. zurückzuführen. Interessant ist auch, daß zwischen I und R keine besonders enge Verwandtschaft besteht. So trennte sich I vor etwa 40.000 Jahren von der Haplogruppe J, die bei Arabern, Juden und anderen Bewohnern des Nahen Ostens dominant auftritt. R dagegen ist am engsten verwandt mit Haplogruppe Q, einem Zweig, der einerseits bei Turkvölkern wie den Turkmenen und andererseits bei den Indianern stark vertreten ist. Die Mischung dieser beiden Gruppen begründet also den genetischen Hauptstamm der heutigen Deutschen, neben einigen Vertretern der Haplogruppen E, G und J. Dennoch bildet die Bevölkerung Deutschlands wie diejenige anderer Völker Europas einen gemeinsamen Genpool, der es ermöglicht, fast jeden einzelnen Europäer seinem Heimatland zuzuordnen. Das Maß der Homogenität der Völker ist heute bestimmt durch die Grenzen Ihrer eigentümlichen Genpools. Die Heterogenität wurzelt in der unterschiedlichen Zusammensetzung und Abstammung ihrer Gründungspopulationen. Ein anschauliches Bild entsteht, wenn man sich verschiedene Regler vorstellt, von denen jeder eine Gründungspopulation mit einer bestimmten Haplogruppe repräsentiert. Jeder Regler wird für eine bestimmte Nation auf ein bestimmtes Maß eingestellt, bis die korrekte Zusammensetzung angezeigt wird . Die genaue Position der Regler – und und ihre Zahl - charakterisieren dann die Homogenität oder Heterogenität der jeweiligen Bevölkerung.
Diese erste Untersuchung, die noch nicht in die Tiefe geht und nur die anteiligen Abstammungsverhältnisse männlicher Deutscher betrifft, macht schon deutlich, welche weitreichenden Möglichkeiten die Methode der Haplogruppenuntersuchung dem Bevölkerungsforscher liefert. Wir werden uns dem Thema daher in der nächsten Ausgabe erneut zuwenden und versuchen, konkretere Erkenntnisse über die Geschichte und Zusammensetzung der Völker Europas zu gewinnen.