RECONQUISTA

  • Elite und Masse

     

    Jede heute bekannte Gesellschaft zerfällt in zwei Lager: Es gibt die wenigen „Klugen“ und die Masse der „Mittelmäßigen“ und „Dummen“.  Nun wird sich vielleicht mancher wundern, daß hier die Mittelmäßigen, also auch die etwas Überdurchschnittlichen, mit den Dummen in denselben Sack gesteckt werden. Das liegt daran, daß sie keinen Einfluß auf die Spielregeln ihrer gesellschaftlichen Ordnung haben, deren Hintergründe sie erstens nicht kennen und die sie zweitens auch nicht aus eigener Initiative in Frage stellen können. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt dem Versuch, die Regeln der bestehenden Ordnung zu erfassen und in diesem vorgegebenen Rahmen möglichst erfolgreich zu sein. Dabei ist eine Vielzahl von Lebensmodellen  denkbar. Betrachtet man unsere eigene, westliche Gesellschaft, so gibt es etwa diejenigen, die stolz auf ihr Talent sind, mit möglichst wenig Arbeit durchs Leben zu kommen; ihr Anliegen ist es, die sozialen Mechanismen der Gesellschaft zu erfassen und zu ihrem eigenen Vorteil auszubeuten. Andere wiederum blicken auf jene Ersten herab und sind stolz gerade auf ihre Selbständigkeit, auf die Fähigkeit, im Rahmen einer Lohnarbeit durch eigene Leistung ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wer etwas klüger ist, mag sein Selbstwertgefühl daraus beziehen, daß er sich mit den bestehenden Regeln besonders gut zu arrangieren weiß, daß er sie ihrem Wesen nach und in ihrem Umfange besser versteht und durch eine geistig anspruchsvolle, besser bezahlte Tätigkeit einen höheren materiellen Lebensstandard genießt. Akademiker aller Art sind Vertreter dieses Menschenschlages, der „Überdurchschnittlichen“, die gewissermaßen die Oberschicht der Masse bilden. Als besonders gutes Beispiel können die Juristen gelten: In einer Gesellschaft, die danach strebt, ihre Regeln bis ins letzte Detail in Gesetze zu verwandeln, ist der Jurist der Regelversteher schlechthin und daher privilegiert. 

    Was aber alle diese Menschen verbindet ist, daß sich ihr ganzes Streben, ihre ganze Lebensenergie in dem Bemühen erschöpft, die gegebenen Spielregeln des menschlichen Zusammenlebens in ihrer eigenen politischen Ordnung zu verstehen und sich in ihnen optimal zu arrangieren. Der nächste Schritt aber, der „kopernikanische“ Stellungswechsel, das Heraustreten aus dem System, in das sie hineingeboren wurden und dessen Teil sie sind, um eine neue Perspektive einzunehmen und den Gesamtzusammenhang von außen zu betrachten, ist ihnen völlig unmöglich.

    Das aber können andere. Die Fähigkeit, sich psychisch zu distanzieren von den Werten und Regeln der sie umgebenden Welt, zu erkennen, daß eben diese Werte und Regeln gesetzt sind, von Menschen gemacht und damit auch ganz anders sein könnten, ist eine zentrale Eigenschaft derjenigen, die wir als Elite bezeichnen. Sie tritt zumeist gemeinsam auf mit sehr hoher Intelligenz. Die Masse hat ein unstillbares Bedürfnis nach Klarheit, Gewißheit, Sicherheit, nach Objektivität – ihre Welt muß verläßliche, von Gott oder von irdischen Autoritäten gegebene Regeln haben, nach denen man sein ganzes Leben ausrichten kann. Die Elite dagegen weiß um die systemische Ungewißheit aller Fragen, die die menschliche Existenz betreffen. Die Komplexität der Natur einerseits und die Beschränktheit unserer Wahrnehmung andererseits machen es uns unmöglich, die Welt objektiv zu erfassen – und so bleibt all unser Wissen letztlich hypothetisch. Was immer die Naturwissenschaft hervorbringt ist im besten Fall Arbeitshypothese und wartet darauf, zu gegebener Zeit durch eine bessere Theorie abgelöst zu werden. Wer das begreift und verinnerlicht, dem gehen alle Gewißheiten verloren. Die Grundlage seines Wissens – und Handelns - besteht aus einem Satz von Arbeitshypothesen, die immer wieder an den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis angepasst werden müssen. Wer aber so denkt, fühlt und lebt, der weiß, daß auch die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens fragwürdig sind und in Frage gestellt werden können. Das bedeutet, Werte und Regeln sind nicht objektiv, sie sind kontingent, können also durch den schöpferischen menschlichen Geist auch anders gesetzt und den eigenen Bedürfnissen angepasst werden. Man mag einwenden, daß eine solche, ihrem Wesen nach atheistische Haltung psychisch im höchsten Maße unbefriedigend ist, weil sie das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, nach Gewißheiten unerfüllt lässt. Wer so denkt und fühlt findet Befriedigung in seiner eigenen psychischen Stärke. Die Ungewißheit gehört eben zu den Grundbedingungen menschlicher Existenz – und zu den Wenigen zu gehören, die diese Wahrheit ertragen können ist, wie Camus es beschreibt, eine heroische Attitüde, die das Lebensgefühl der Elite bestimmt.

    Doch diese Gruppe sollte man sich nun keineswegs als verschworene Gemeinschaft vorstellen, sie ist im Gegenteil ein Universum im kleinen Maßstab: Ebenso wie in der Gesellschaft insgesamt finden sich hier unterschiedliche Menschentypen, Einstellungen, Grundhaltungen, ethnische Abstammungen – und gegensätzliche Interessen. In jeder politischen Ordnung ist es wiederum nur ein kleiner Teil jener Menschen, die verbindliche Regeln und Werte vorgibt: Es sind eben diejenigen, die sich über bestimmte, gemeinsame Interessen einig geworden sind und die sich gegen die Vertreter konkurrierender Modelle durchgesetzt haben (es gibt Definitionen, die allein diese Leute als „Elite“ im engeren Sinne sehen). Die anderen sind potentielle Eliten, Gegeneliten, die stets daran arbeiten, die bestehenden Werte zu überwinden, um ihre eigenen durchzusetzen, und die von denen, die sich durchgesetzt haben, bekämpft werden.
    Wenn wir auf unsere westlichen Staaten schauen, so können wir aus den Werten und Regeln, die unser Leben bestimmen, schlußfolgern, was für ein Menschentyp mit welchen existenziellen Interessen das ist, der sich da durchgesetzt hat und unsere Werte bestimmt. In den vergangenen Jahrhunderten war der Grundgedanke europäischer Politik der Nationalismus, also die Vorstellung, daß die Menschen im Staat ein Volk sind, eine Gemeinschaft, die gemeinsam die Umsetzung großer Ziele anstrebt und sich durch Abgrenzung zu den Nachbarvölkern definiert. In diesem, seinem Wesen nach biologischen Konzept, das auf dem Prinzip der Verwandtschaft innerhalb eines Volkes beruht und an die Idee der erweiterten Familie angelehnt ist, gibt jedes Individuum im Rahmen einer hierarchischen Ordnung den gemeinsamen Bedürfnissen Vorrang vor seinen Individualinteressen. Heute haben sich die Verhältnisse umgekehrt: Die Existenz einer Gemeinschaft wird abgestritten, und stattdessen ist das Individualinteresse das Maß der Dinge. Jeder Mensch ist heute nach der herrschenden weltanschaulichen Definition nicht mehr Teil einer Gemeinschaft; nicht nur das, dieser Gedanke wird sogar geradezu als systemfeindlich angesehen. Jeder ist nur noch Individuum und steht im direkten Konkurrenzverhältnis zu seinen Mitbürgern. Es liegt nahe zu folgern, daß die Vertreter der herrschenden Elite entweder fremder Abstammung sind, oder sich zumindest selbst als Fremde sehen. Demselben Interesse folgt das gegenwärtige Ansiedeln von Millionen Menschen aus allen Teilen der Welt in den europäischen Ländern – die biologische Homogenität und damit die gemeinschaftliche Identität werden geschwächt. Wer sich zuvor als Fremder sah, ist nun kein Außenseiter mehr, das „Fremd-Sein“ wird zum Regelfall.
    Einen herausragenden Stellenwert hat in unseren westlichen Staaten auch die Idee des „freien Marktes“, der nicht nur das Wirtschaftsleben entscheidend prägt, sondern auch die Art und Weise, wie alle gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse durch das Feilschen um individuelle Interessen geprägt sind. Wir haben es mit einem Menschenschlag zu tun, der grundsätzlich materialistisch fühlt und der Politik als eine Art Handel verstehen möchte, bei dem der Clevere seine Interessen zur Geltung zu bringen weiß. Wir wollen diesen Gedanken hier aber nicht weiter vertiefen.

    Spätestens an dieser Stelle ist deutlich geworden, wie das Verhältnis von Elite und Masse im Staat angelegt ist. Man wird mit Recht anführen, daß die Werte und Meinungen in der breiten Bevölkerung keineswegs so monoton ausgerichtet sind, wie man angesichts der bisherigen Schilderung meinen sollte. Woher kommen die Ideen der linken Studenten, der jugendlichen Revoluzzer, der Libertären, der Rechtsalternativen, die zumindest formal nicht mit dem verordneten Wertekanon der herrschenden Ordnung übereinstimmen? Die Antwort lautet: Diese Ideen stammen entweder von progressiven Kräften innerhalb der Eliten - oder von den Gegeneliten. So mancher Weltverbesserer, der sich für unglaublich individuell hält und glaubt, er hätte die Politik neu erfunden, begreift nicht, daß er nur eines von mehreren ideologischen Konzepten aufgreift, die andere für ihn bereits „vorgekaut“ haben. Dabei sind wirklich oppositionelle Konzepte, die das System bedrohen, zu unterscheiden von solchen, die förderlich sind oder ihm doch zumindest nicht schaden. Es gibt bei uns einen engen Wertekorridor von politischen Meinungen, die erlaubt sind und die man öffentlich vertreten kann, um eine Illusion von Meinungsfreiheit entstehen zu lassen. Der größte Teil des Spektrums politischer Weltanschauung – dazu gehört im Westen z.B. alles, was rechts ist – wird geächtet, die Eliten die sie vertreten, werden politisch verfolgt. Wer sie sich zu eigen macht, wird gesellschaftlich geächtet.

    Eine besondere Rolle kommt im Verhältnis zwischen Masse und Elite den Politikern zu. Die westlichen Politiker gehören nicht, wie viele irrtümlich meinen, zur Elite. Sie sind Individuen aus dem Volk, die die Spielregeln besonders gut verstanden haben (folgerichtig sind viele westliche Politiker von Hause aus Juristen). Westliche Politiker haben keine eigenen Lösungskonzepte zur Bewältigung gesellschaftlicher Probleme. Sie greifen die Gedanken derjenigen Ideengeber auf, denen sie dienen. Ihre Aufgabe ist es also, einerseits im Geheimen den Interessen der System-Eliten zu dienen, andererseits aber die systemimmanente Illusion von Demokratie aufrechtzuerhalten, um die staatliche Ordnung zu stabilisieren. Die Politik hat demnach eine Scharnierfunktion zwischen Elite und Masse: Sie vermittelt gesetzte Regeln und ideelle Werte nach unten und, im Gegenzug, materielle Werte „nach oben“. Die meisten Politiker in führenden Stellungen erhoffen sich als Lohn für ihr Handeln das Aufrücken in den Kreis der herrschenden Elite. Doch das erweist sich zumeist als Illusion. Denn Elite wird man nicht, man ist es seiner Veranlagung und Persönlichkeit nach – oder eben nicht.

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Geleitwort

Im Streit um die Germanen

"Meinungsfreiheit" in der EU

Der Fall "Maddie" und "Pizzagate"