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Evolutionäre Ethik - Teil 1: Biologische Grundlagen
Ethik ist die Lehre vom „guten“ Handeln. Sie sagt uns, was „richtig“ und was „falsch“ ist und was wir tun - oder besser lassen sollten. Es ist nun keine Frage, daß jede denkbare Gesellschaft einen Satz ethischer Werte benötigt, der das menschliche Zusammenleben regelt. Welche Handlungen sind lobens-, welche tadelnswert, wem steht in der Verteilung vorhandener materieller und nichtmaterieller Güter welcher Anteil zu, nach welchen Maßstäben ist im Konfliktfall zu entscheiden? In den modernen westlichen Staaten sind solche Werte in die Gesetzestexte eingeflossen und werden vom Rechtswesen gewissermaßen mechanistisch abgearbeitet. Aber welche Werte sind das, die dort regelhaft festgeschrieben sind, woher kommen sie, wer hat sie gesetzt – und warum?
Die Ethik ist eine der ältesten philosophischen Disziplinen, schon Platon und Aristoteles haben sich ihr einst gewidmet, und es gibt wohl keine Hochkultur ohne einen Denker, der die zeitgemäßen, gültigen Werte beschrieben oder begründet hätte. Setzt man sich mit diesen Lehren auseinander, so stellt man überrascht fest, daß es eine erstaunliche Vielfalt an Vorstellungen darüber gibt, was denn gutes oder richtiges Handeln ist und wie ein gelungenes, gutes Leben verläuft. Die einen sehen den Menschen als Teil einer staatlichen Gemeinschaft und erkennen seinen Wert in seinem individuellen Beitrag zum Erfolg des Gemeinwesens. Die anderen betrachten ihn als isoliertes, allein auf sich selbst bezogenes Individuum, das stets in Konkurrenz zu allen seinen Mitbürgern steht und wahlweise durch den Staat geschützt – oder von ihm bedroht wird. Einige lassen ihn nach Lust streben, andere wiederum empfehlen ihm, sich ihr gerade zu enthalten und stattdessen seine Pflicht zu tun. Für manche ist er bloß ein kluges Tier, für andere gar eine Art komplexer Mechanismus – wieder andere dagegen plazieren ihn in eine Sphäre der „Vernunft“ jenseits aller Natur, sehen in ihm eine Art Gott, der durch rationales Nachdenken die Naturgesetze außer Kraft setzen kann. Die einen raten ihm, materiellen Reichtum anzuhäufen, die anderen empfehlen das Streben nach immateriellen Gütern, nach „Idealen“. Manche halten Gleichheit für die höchste Form der Gerechtigkeit, andere wiederum wollen jedem das geben, was ihm seiner Leistung entsprechend zusteht. Diese Auflistung ließe sich noch erstaunlich lange fortsetzen.
Vernunft als Irrweg
Der leitende Gedanke neuzeitlicher Ethik ist die Idee, daß Körper und Seele zwei verschiedenen, im Prinzip voneinander unabhängigen Sphären angehören. Der menschliche Geist sei durch eine rationale Vernunft geleitet und autark, also „frei“ in seinen Entscheidungen. Deshalb sei auch die Ethik eine Denkart, die sich von allen anderen unterscheide, in der die Naturgesetze also nicht gelten. Diese Annahme ist durch die Biologie, insbesondere durch die Hirnforschung, in den vergangenen 20 Jahren systematisch widerlegt worden.[1] Wir wissen heute genauer als je zuvor, daß unser Gehirn qualitativ nicht anders funktioniert als das eines jeden anderen höheren Tieres,[2] daß Entscheidungen nicht frei und vernunftgeleitet getroffen werden, sondern zunächst unbewusst als Ergebnis hochkomplexer, materieller Vorgänge in den neuronalen Netzen des Gehirns entstehen. Diese nichtlinearen – und damit nicht vorhersagbaren - Prozesse sind den Naturgesetzen unterworfen und damit determiniert. Das Gehirn ist nichts anderes als ein komplizierter Mechanismus, der Willensentscheidungen hervorbringt, die subjektiv als „frei“, unabhängig wahrgenommen werden, ohne es tatsächlich zu sein. Die geistige Sphäre ist also das Ergebnis materieller Prozesse und keineswegs autark, sondern ein besonderer Zustand körperlicher Aktivität. Die Existenz eines unabhängigen Geistes ist demnach nichts anderes als eine Illusion, und auch die aus ihr abgeleitete, dogmatische Vorstellung, aus einem „Sein“ könne kein „Sollen“ entstehen, ist ein Irrweg – „Sollen“ ist „Sein“ und nichts anderes! So ist unser ethisches Empfinden also ebenfalls das Ergebnis körperlicher Prozesse, die auf angeborenes Verhalten und Umwelteinflüsse, in diesem Fall insbesondere auf die politische Erziehung, zurückzuführen sind. Doch auch in den durch Erziehung vermittelten Ansichten spiegeln sich angeborene Verhaltensweisen, so daß der Schlüssel zum Verständnis jeder Art von Ethik letztlich in den evolutionär erworbenen Verhaltensmustern liegt. Diejenige naturwissenschaftliche Disziplin, die sich mit den Grundlagen tierischen Verhaltens im Sozialgefüge befasst, ist die Soziobiologie. Wir wollen an dieser Stelle darauf verzichten, ihre theoretischen Grundlagen im Detail vorzustellen – das wird in einem eigenen Beitrag geschehen – und uns stattdessen mit ihren Ergebnissen befassen. Was also sind die aus der Natur abgeleiteten ethischen Gebote?
Biologische Individualethik
Wir haben in dem Beitrag über das „egoistische“ Y-Chromosom (S. 50) Wilsons und Dawkins‘ Erkenntnisse zum Überlebensdrang der eigenen Gene bereits vorgestellt. Thomas Hobbes formuliert in seinem Leviathan das erste Gebot des Lebens sinngemäß so: „Überlebe“, „erhalte Dich selbst!“ Doch dieser Ansatz ist noch unvollständig. Indem wir unsere Identität vom eigenen Individuum auch auf unser Genom übertragen, das uns über die eigene Lebenszeit hinaus in Zukunft und Vergangenheit repräsentiert, muß sich dieses Gebot in erster Linie auf die eigenen Gene beziehen. So betrachtet lautet es also: Überlebe, sei erfolgreich, finde einen qualitativ hochwertigen Partner und bringe möglichst viele Nachkommen hervor; mache auch sie erfolgreich!“ In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand mit dem „Sozialdarwinismus“, angelehnt an die damals neue Evolutionstheorie, zum ersten Mal ein ethisches Konzept, das sich an den Naturgesetzen orientieren wollte. „Der Starke tötet den Schwachen, das ist das Selektionsgesetz der Natur und deshalb ist es richtig!“ – so etwa könnte man man den Grundgedanken dieser Lehre in einem Satz fassen. Es fällt auf, daß solche Vorstellungen mit unserem moralischen Empfinden weitgehend inkompatibel sind. Das liegt daran, daß wir unsere Werte, also das, was sein soll, nicht aus einer Beobachtung dessen ableiten können, was wir bereits vorfinden. Wir müssen vielmehr die biologischen Grundlagen unseres Verhaltens, unserer ethischen Gefühle verstehen. Das gelingt erst durch Betrachtung der Ergebnisse der modernen Soziobiologie.
Verwandtenselektion
Die zentralen Erkenntnisse einer evolutionären Ethik zielen auf das Sozialverhalten. Eines der wichtigsten Probleme der Evolutionstheorie ist von Anfang an die Frage gewesen, wie sich der in der Natur häufig zu beobachtende Altruismus entwickelt haben kann, wenn die Selektion doch auf Individuen wirkt, die direkt miteinander konkurrieren („Darwins Dilemma“). Frühere Erklärungsversuche, etwa die Annahme von Konrad Lorenz, Selektion ziele nicht auf Individuen, sondern auf den Erhalt der Art, haben nicht überzeugen können. Erst die Soziobiologie liefert ein überzeugendes theoretisches Modell. Im Jahr 1968 entwickelte der britische Biologe William D. Hamilton das Konzept der Verwandtenselektion, das Grundlage für alle weitergehenden Überlegungen gewesen ist. Hamilton definierte die Gesamtfitness eines Lebewesens als die Anzahl der Gene, die an die nachfolgende Generation weitergegeben wird. Sie setzt sich nach Überlegungen von John Maynard Smith aus zwei Anteilen zusammen: Der direkten Fitness durch selbst vererbte Gene, und der indirekten Fitness durch Gene, die von Verwandten vererbt werden. Da Verwandte zum Teil dieselben Gene besitzen wie das betrachtete Individuum, befördert es durch Helferverhalten innerhalb der Familie den Erfolg des eigenen Erbguts. Es lässt sich nun mathematisch beschreiben – die Regeln der Vererbung von Genen sind ja bekannt – ob sich in einer bestimmten Situation Helferverhalten lohnt oder nicht. Eltern haben 50% der Gene mit ihren Kindern und durchschnittlich 25% mit ihren Enkeln gemeinsam. Geschwister teilen 0-100% (eineiige Zwillinge) der Gene, durchschnittlich aber 50% bei Normalverteilung. Vettern ersten Grades haben durchschnittlich 25%, zweiten Grades 12,5% gemeinsam usw. Wird stets innerhalb einer bestimmten Gruppe geheiratet – innerhalb der Polis, des Kleinstaates, des eigenen Stammes, ja in jedem ethnisch homogenen Umfeld - sind die Übereinstimmungen sogar erheblich größer.
Der Verzicht auf einen eigenen Vorteil, der ja oft mit einem Verlust der Individualfitness zusammenfällt, kann sich nun im Kreis der Verwandten durchaus lohnen, wenn sich nämlich über deren Nachkommen die Gesamtfitness des betrachteten Individuums entsprechend erhöht. Selbst der eigene Opfertod darf jetzt, unter besonderen Umständen, in Kauf genommen werden. Natürlich rechnen diese Individuen nicht. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sich evolutionär ein organischer „Entscheidungsapparat“ entwickelt hat, der den Verwandtschaftsgrad der Beteiligten erfasst und in Krisensituationen automatisch bestimmte, passende Intuitionen freischaltet.
Das „Gute“ als Ursprung aller nichtethischen und ethischen Werte
Welche Schlüsse lassen sich aus der Verwandtenselektion nun mit Blick auf eine neue, biologisch inspirierte Ethik ziehen? Was ist das „Gute“ im soziobiologischen Sinne? Das Gute an sich ist zunächst einmal ganz allgemein das Vorteilhafte, für das Überleben Nützliche; es existiert in abstrakter Form schon für den Einzeller, der sich im Wasser fortbewegt und dessen Sensoren in einer bestimmten Richtung einen leicht ansteigenden Salzgehalt messen, der eine Verbesserung des Stoffwechsels signalisiert. „Gut“ sind auch für das menschliche Individuum solche Umweltbedingungen, unter denen es sich wohlfühlt, „schlecht“ dagegen solche, die dem eigenen Befinden abträglich sind. Besonders schlecht ist in diesem Sinne der eigene Tod. Das soziobiologisch entstandene, ethisch Gute spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle: es ist das richtige Verhalten im sozialen Kontext, also anderen Menschen gegenüber. Wir können nach dem bisher Gesagten nun folgern: „Gut“ ist ein Verhalten, von dem die eigenen Gene maximal profitieren. Diese Gene finden sich aber nicht nur im eigenen Individuum, sondern auch bei engeren und entfernteren Verwandten – lebe ich in einer ethnisch homogenen Umwelt, finden sie sich in hohem Maße auch bei meinen Mitmenschen. Es liegt dann also in meinem Interesse ebenso wie im Interesse aller anderen, nicht nur das eigene Individuum und die eigene Familie, sondern auch die eigene Gesellschaft, den ganzen Staat erfolgreich zu machen und dafür auf individuelle Vorteile zu verzichten. Indem ich mir einen solchen Staat schaffe, entsteht für mich ein Lebensumfeld, das allen heterogenen, multiethnischen Gesellschaften vorzuziehen ist und das mir ideale Lebensbedingungen bietet. Die evolutionäre Ethik fordert in letzter Konsequenz: Schaffe Dir oder wähle möglichst ein genetisch homogenes Milieu - und tue alles, was in Deiner Macht steht, es erfolgreich sein zu lassen! Ein Idealbild ist hier das Konzept des Aristoteles, der den Staat aus einer über viele Generationen wachsenden Familie entstehen lässt. Unsere Gegenwartsgesellschaft entspricht nun eher dem Gegenteil, dem Zerrbild eines gesunden Lebensumfeldes. Es dürfte nicht notwendig sein darauf hinzuweisen, daß multikulturelle Gesellschaften, daß das ideologisch motivierte Bestreben, die eigene Umwelt durch Masseneinwanderung genetisch zu heterogenisieren, das ethische Gebot des Lebens nachdrücklich verletzt. In einer multiethnischen Gesellschaft werden Zusammenhalt und Sozialverhalten immer schwächer ausgeprägt sein als in einer homogenen Gemeinschaft.
Reziproker Altruismus
In einer solchen, genetisch heterogenen Umgebung wird jedoch immerhin noch ein anderer Mechanismus wirksam, den die Soziobiologie ebenfalls erkannt hat: Der seit 1971 zuerst durch Robert Trivers erforschte „Reziproke Altruimus“. Es handelt sich um eine auch unter Nichtverwandten ausgeprägte Neigung zu helfen und damit in Vorleistung zu gehen – in der Erwartungshaltung, daß der jeweils andere sich zu gegebener Zeit revanchieren wird. Auch der reziproke Altruismus ist ein angeborenes Verhalten und in seiner Wirkung gut erforscht. Der von ihm ausgelöste soziale Impuls ist grundsätzlich schwächer als der des biologischen Altruismus, er ist weniger zwingend und bei Menschen sehr unterschiedlich veranlagt. Eine immer größer werdende Zahl der Bewohner westlicher Gesellschaften gründet ihre Existenz auf Vorteile, die sie aus der Hilfsbereitschaft der anderen zieht, ohne selbst einen Beitrag zu leisten. Mittel- und langfristig sinkt damit auch die Bereitschaft der anderen zu helfen, so daß die Neigung zum Egoismus stetig steigt und das menschliche Zusammenleben – und damit auch der Staat insgesamt - im Laufe der Zeit beständig schlechter funktioniert. Dennoch ist der reziproke Altruismus, weitgehend unerkannt, die Grundlage der meisten ethischen Gebote und daraus abgeleiteter Gesetze, die es in unseren modernen Gesellschaften gibt. Er manifestiert sich auch in jener „Goldenen Regel“ der Ethik, die Kant in seinem kategorischen Imperativ etwa so zusammengefasst hat: „Handle immer so, daß die Maxime Deines Handelns auch das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein könnte!“ Wie fast alle seine Vorgänger – und Nachfolger – macht Kant den Fehler anzunehmen, er habe diese Regel „aus der Vernunft“ abgeleitet. Die Gesetze des Lebens, die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Soziobiologie, sind in der Naturwissenschaft inzwischen wohlbekannt; doch in der Geisteswissenschaft weigert man sich, sie anzuwenden und klammert sich, als wolle man sie nicht wahrhaben, an Konzepte des Leib-Seele-Dualismus aus der frühen Neuzeit, die erkenntnistheoretisch längst überholt sind. Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf die Disziplin der Ethik wird, sofern die menschliche Hochkultur noch eine Zukunft hat, eines der großen Projekte einer zukünftigen Geisteswissenschaft sein.
Wir haben nun die beiden Grundmotive des menschlichen Sozialverhaltens kennengelernt, Verwandtenselektion und den Reziproken Altruismus. Was sagen sie uns über unsere Werte – solche, die in unseren Gesellschaften in hohem Ansehen stehen und solche, die wir persönlich hoch schätzen? Wie haben sich aus diesen Anfangsbedingungen die verschiedenen ethischen Konzepte entwickelt? Wie konnten daraus so unterschiedliche Theorien entstehen wie die aristotelische, die christliche, die kantische Ethik, der Utilitarismus? Was bedeutet es, aus dieser neuen Perspektive betrachtet, konservativ zu sein oder liberal? Was ist demnach ein politisch Linker, was ein Rechter? Warum liegen die Wertevorstellungen solcher unterschiedlicher Ansätze so weit auseinander? Und nach welchen konkreten Werten sollten wir unser Gemeinwesen nun tatsächlich ausrichten? Mit solchen Fragen werden wir uns in den weiteren Teilen dieser Serie befassen.
Anmerkungen
1) Wolf Singer: Der Beobachter im Gehirn.
2) Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit.
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Zur Vertiefung der Thematik: Einer der führenden Soziobiologen unserer Zeit, der Ameisenforscher und Pulitzer-Preisträger Bert Hölldobler, referiert über die "evolutionsbiologischen Grundlagen der Xenophobie".